Felsgesicht in Sinemorez; (c) Stephan Matthiesen 2021

Ein Menschenkopf aus Stein! Was hat es damit auf sich?

Felsgesicht in Sinemorez; (c) Stephan Matthiesen 2021

Hier scheint eine riesige Statue aus Stein an der Klippe zu lehnen. Wir befinden uns aber nicht auf der "Osterinsel" Rapa Nui im Pazifik mit ihren berühmten Moai (Steinskulpturen), sondern in Sinemorez (Синеморец) in Bulgarien. Der Steinmensch blickt auf das Schwarze Meer hinaus und sieht in die eine Richtung eine Felsküste, in die andere Richtung einen Badestrand:

Felsküste in Sinemorez; (c) Stephan Matthiesen 2021

Badestrand in Sinemorez; (c) Stephan Matthiesen 2021

Diese beiden Bilder habe ich von der Klippe knapp oberhalb des Kopfes aufgenommen, und das letzte Bild zeigt auch schon, dass der Kopf eine Täuschung ist, die nur aus einer bestimmten Perspektive wie ein Gesicht aussieht: Es handelt sich um die Felsen in der unteren Bildmitte, die von oben gesehen keineswegs bemerkenswert erscheinen. Der Standort der ersten beiden Bilder befindet sich am Strand ungefähr in der unteren rechten Ecke dieses Bildes (man beachte zur Orientierung auch den bunten Sonnenschirm am Strand direkt vor der "Figur", der in beiden Bildern zu sehen ist).

Zur Entstehung des "Kopfes" ist eigentlich nicht viel zu sagen: Die Erosion der Felsküste führt zu den verschiedensten merkwürdigen Formen, und es ist nicht verwunderlich, dass sich in dieser enormen Vielfalt irgendwo auch Formen finden, die einem Kopf ähneln. Dennoch vermittelt der Kopf (mindestens) zwei Botschaften über unser Naturverständnis.

Die erste Botschaft ist, dass es bei der Naturbeobachtung oft nicht nur um Naturphänomene an sich geht, sondern um unsere eigene Wahrnehmung. Die Bedeutung, die wir bestimmten Erscheinungen zumessen, entspringt nicht der Natur selbst, sondern unserem eigenen Kopf. Zwar gibt es Mechanismen, die gesetzmäßig bestimmte Formen hervorbringen, etwa Wellen. Aber es gibt keinen Naturmechanismus, der Steine gezielt zu Gesichtern formt, sondern es entstehen vielerlei Erosionsformen mit unterschiedlichstem Aussehen. Es ist nur unser eigenes Gehirn, das uns dazu bringt, das "Gesicht" für etwas Besonderes zu halten, während wir die Millionen anderer Felsen der Küste zwar schön, aber sonst nicht weiter auffällig oder bemerkenswert finden, obwohl sie alle durch genau die gleichen Erosionsmechanismen entstanden sind.

Die zweite Botschaft des bulgarischen Steinkopfes ist, dass wir in unbelebten Dingen insbesondere gerne Gesichter oder Lebewesen erkennen. Diese Eigenschaft unserer Wahrnehmung nennt man Pareidolie ("Schattenbild"); sie führt etwa dazu, dass manchmal Sommerlochnachrichten um die Welt gehen, jemand habe Jesus oder Maria auf einem Stück Toast entdeckt. Wir hatten die Pareidolie schon beim Mythischen Waldwesen (Muster des Monats, 09/2014) und bei der Gespensterjagd (Muster des Monats, 08/2010) thematisiert. Der Grund dafür ist, dass andere Menschen und Lebewesen für uns extrem wichtig sind, weil wir ständig mit ihnen interagieren und sie uns auch gefährlich werden können. Daher sind im Laufe der Evolution in unserem Wahrnehmungssystem im Gehirn spezialisierte Strukturen entstanden, die gezielt und schnell auf Anzeichen von Lebewesen reagieren.

Man erlebt das im Alltag etwa, wenn man einen Raum betritt: Man blickt automatisch zunächst auf die Menschen und ihre Gesichter und mustert sie schnell durch, während man die unbelebten Details, die Einrichtung des Raums, erst danach langsamer wahrnimmt; das kann man wissenschaftlich auch im Experiment nachweisen, indem man Probanden Bilder von Räumen zeigt und ihre Blickrichtung aufzeichnet. Dabei reagieren diese Wahrnehmungssysteme im Zweifelsfall übervorsichtig: Man blickt auch zuerst auf Fotos oder Gemälde von Personen, die an der Wand hängen, obwohl diese eigentlich unbelebt sind. Denn es ist sicherer und besser, lieber etwas Unbelebtes unnötig genau zu betrachten, als einen Menschen oder ein Lebewesen zu übersehen. Doch als Nebeneffekt führt das dazu, dass wir eben manchmal auch Gesichter sehen, wo es keine gibt.

Übrigens ist mir beim Durchsehen der Fotos noch ein ganz anderer Effekt aufgefallen. Auf diesem Bild sieht es so aus, als sei der Steinkopf gar nicht so groß, nur etwa doppelt so groß wie mein eigener Kopf:

Felsgesicht und Stephan in Sinemorez; (c) Stephan Matthiesen 2021

Tatsächlich liegt das an der Perspektive: Es ist erst in einer größeren Aufnahme erkennbar, dass ich wesentlich näher an der Kamera stehe als der Steinkopf, der in Wirklichkeit wohl etwa 4 Meter hoch ist (die Strandbar rechts im Bild ist ein besserer Größenvergleich):

Felsgesicht und Stephan in Sinemorez; (c) Stephan Matthiesen 2021

Dieser Effekt wird in der Fotografie und in Filmen als sogenannte "erzwungene Perspektive" oft gezielt genutzt, um die Größenverhältnisse der Personen und Objekte visuell zu manipulieren, etwa um Schauspieler, die in einem Fantasyfilm Riesen oder Zwerge darstellen, größer bzw. kleiner erscheinen zu lassen: Der "Riese" befindet sich viel näher an der Kamera als der "Zwerg". Sollen die beiden dann miteinander interagieren, erfordert das viel Professionalität, weil sich die Schauspieler nicht direkt gegenüber stehen, sondern räumlich tatsächlich weit voneinander entfernt sind und jeweils mit "imaginären" Partnern wechselwirken müssen.

Abschließend noch eine ganz andere Bemerkung zur Bedeutung von Naturphänomenen für den Menschen. Zuweilen werden auffällige Orte der Natur als heilige Orte gesehen. In der Nähe von Primorsko (Приморско) tritt mitten im Wald der anstehende Felsuntergrund mit einer Ansammlung auffällige Gesteinsblöcke hervor:

Beglik Tasch; (c) Stephan Matthiesen 2021

Beglik Tasch; (c) Stephan Matthiesen 2021

Beglik Tasch; (c) Stephan Matthiesen 2021

Diese Ort ist Beglik Tasch (Беглик Таш), ein Heiligtum der Thraker etwa aus dem 14. bis 6. Jh. v. Chr.

Auch dieser Ort ist geologisch zwar interessant, aber nicht enorm bemerkenswert; einen halben Kilometer weiter an der Küste erkennt man, dass der gesamte Felsuntergrund ähnlich aussieht:

Schwarzmeerküste bei Primorsko; (c) Stephan Matthiesen 2021

Geologisch ist dieses Gebiet eine kreidezeitliche magmatische Intrusion aus dem Gestein Granodiorit, und man erkennt die für Granite und Granodiorite typische Wollsackverwitterung, bei der die Klüfte und Spalten des Gesteins so verwittern, dass quaderförmige, aber abgerundete Gesteinsblöcke verbleiben, die wie aufgestapelte Wollsäcke aussehen.

Wiederum besteht die Bedeutung von Beglik Tasch nicht so sehr in einer ungewöhnlichen Geologie, sondern dass den Menschen dieser Formation in einer ansonsten eher glatten, etwas hügeligen Ebene bemerkenswert erschien. Das thrakische Heiligtum besteht aus verschiedenen Elementen, etwa dem "Labyrinth", einem Durcheinander von Felsblöcken, durch die man auf einer Art spiritueller Reise einen Weg finden musste.

Labyrinth von Beglik Tasch; (c) Stephan Matthiesen 2021

Labyrinth von Beglik Tasch; (c) Stephan Matthiesen 2021

Obwohl die thrakische Religion längst vergangen ist, weisen offenbar auch heutige Menschen dem Ort noch eine gewisse spirituelle Bedeutung zu. Wohl weniger aus bewusstem Glauben, sondern spontan aus Tradition und Nachahmung hinterlassen viele Besucher Münzen als "Opfergaben" auf dem sogenannten "Hochzeitsbett", einem flachen Stein, auf dem rituell die Hochzeit zwischen der Muttergöttin und dem Sonnengott vollzogen worden sein soll.

Hochzeitsbett von Beglik Tasch; (c) Stephan Matthiesen 2021

Muenzen auf dem Hochzeitsbett von Beglik Tasch; (c) Stephan Matthiesen 2021