Viele Laubbäume bilden bereits im Sommer Knospen für den Austrieb im kommenden Frühjahr. Den Winter überstehen die Blattanlagen in einer Schutzhülle aus Knospenschuppen. Die Größe, Form, Farbe und Konsistenz dieser Blattknospen ist eines der besten Merkmale für die Bestimmung von Laubbäumen im Winter. Im März und April öffnen sie sich nach und nach, je nach Art sehr früh, um bei der Photosynthese einen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz zu haben, oder erst, wenn eine bestimmte Kombination aus Tageslänge und Lufttemperatur erreicht ist.

Hier sehen wir ein frisches Lindenblatt. Es ist asymmetrisch - aber wieso?

Letztes Jahr habe ich darüber nachgedacht und bin zu keinem guten Schluss gekommen. Ich dachte zum Beispiel kurz, so würden sich die Blätter an den Zweigen möglichst wenig gegenseitig das Licht rauben, aber dafür ist die Asymmetrie genau verkehrt: Die größere, dem Blattstiel näher kommende Seite ist zum Zweig und zum versetzt gegenüber liegenden Blatt ausgerichtet, sodass sich die Blätter teilweise beschatten. Bevor ich auf dieses Rätsel zurückkomme, sehen wir uns die Blattknospen und jungen Blätter einiger anderer Bäume an. Hier zum Beispiel an der Rot-Buche, die schlanke, langgestreckte Knospen hat:

Neben der Behaarung der jungen Blätter, die vermutlich entweder Fressfeinde oder kalten Wind abwehren sollen, und der Rotfärbung der Knospenschuppen als Schutz vor Sonnenbrand fällt vor allem die Fältelung der Blätter auf. Die parallel verlaufenden Blattadern zu beiden Seiten der Hauptachse sind nach unten, die dazwischen liegenden Teile der Blattspreite nach oben gewölbt. Derart im Zickzack zusammengefaltet, ist das junge Blatt in der Knsope ganz schlank und passt so gut hinein. Dasselbe Prinzip finden wir bei der Hainbuche, die dem Namen zum Trotz gar keine echte Buche ist. Hier ist die Zickzack-Faltung sogar noch deutlich zu sehen:

Dieser Trick klappt aber nicht bei allen Blättern. Hier sehen wir die Knospen einer Schwarz-Pappel, die ich im Februar fotografiert habe:

Die jungen Pappelblättchen sind zu beiden Seiten der Hauptader nicht etwa entlang ihrer Nebenadern im Zickzack zusammengefaltet, sondern seitlich eingerollt, um in die Knospen zu passen:

Bei der Silber-Weide mit ihren extrem langgestreckten, lanzettlichen Blättern wäre das wiederum schwierig. Ihre Knospen sind zwar langgestreckt, aber doch viel kürzer als die fertigen Blätter. Die frischen Blättchen legen nach dem Abwurf der Knospenschuppen ein starkes Längenwachstum hin. Dabei schützt das jeweils vorhergehende Blatt das nächste, indem es wie eine Scheide um die Blattanlage liegt - und so weiter, wie bei einer Matrjoschka:

Die Blattknospen der Eichen sind ziemlich groß und tragen rotbraune, am Rand hell bewimperte Schuppen, die mit ihrer regelmäßigen Anordnung an Dachschindeln erinnern. Hier sind die Blättchen in der Knospe wieder um die parallel verlaufenden Blattadern zusammengefaltet, an den Rändern aber auch ein wenig eingerollt:

Die Esche hat markante, feste, kurze, zum Schutz vor Frost und Trockenheit mit einem schwarzen Filz überzogene Blattknospen - oft eine große am Ende eines Zweigs und zu beiden Seiten davon noch zwei weitere. Im Frühjahr wachsen die inneren Knospenschuppen und die Blattanlagen in die Länge. Dann wölben sich die schützenden inneren Knospenschuppen nach außen, und wir erkennen, dass sich die Hauptadern der einzelnen Fiederblättchen parallel aneinander und an die Hauptachse des gesamten Blatts schmiegen:

Andere Bäume kommen ohne feste Knospenschuppen aus. Die Kaukasische Flügelnuss, eine nicht einheimische, aber inzwischen bei uns verbreitete Baumart, hat Eschen-ähnliche Blätter, was sich in ihrem Artnamen spiegelt: Pterocarya fraxinifolia (Fraxinus ist die Gattung Esche, folia sind Blätter - man denke etwa an Folianten). Auch ohne Schutzhülle sind die jungen Blättchen ganz ähnllich zusammengelegt wie bei der Esche:

Wenn sie sich im weiteren Wachstum entfalten, lösen sich erst die einzelnen Fiederblättchen voneinander, und dann entrollen sie sich, sodass ihre glatte, unbehaarte Oberseite sichtbar wird:

Wie die Entfaltung der Blätter verläuft, hängt also wesentlich von der Anordnung der Blätter an der Spitze des Sprosses und der Blattadern im einzelnen Blatt oder Fiederblatt ab. Und damit kommen wir zurück zur Linde: Wie das Eingangsbild zeigt, bilden ihre Blattadern ein komplexes Verzweigungsmuster. Senkrecht zu den Hauptblattadern verlaufen viele Querverbindungen, die ebenfalls eine gewisse Dicke haben. Da wäre eine Faltung wie etwa bei Hainbuche und Rot-Buche schwierig. Stattdessen sind die jungen Blättchen im Inneren der Knospe entlang der Hauptachse zusammengeklappt, was wir hier am Blättchen unten rechts am besten sehen:

Im nächsten Bild ist die Entfaltung schon etwas weiter vorangeschritten. Wenn im Frühjahr die Baumsäfte aufsteigen, schwellen die einzelnen Zellen an, weil ihr Turgor steigt: der osmotische Druck in ihrem Inneren. Dann werden die rötlichen Blattschuppen ein wenig nach außen gespreizt, und die längs zusammengeklappten Blättchen klappen über die Hauptachse auseinander:

Hier ist der Prozess zumindest bei den ersten vier Blättern bereits weitgehend abgeschlossen. Und jetzt wird deutlich, warum die Lindenblätter asymmetrisch sind: Wären sie es nicht, stünden die Knospenschuppen ihrer Entfaltung in Weg. Es ist immer die "kleinere Hälfte", die in der Knospe mit der Blattunterseite nach außen liegt und sich folglich umblättern muss.

Aber Vorsicht mit allzu starken Vereinfachungen und vermeintlichen Kausalzusammenhängen: Wenn die eine Blatthälfte "wegen" der Knospenschuppe kleiner sein "muss", können wir uns genauso gut fragen, wieso die Schuppe nicht einfach rechtzeitig abfällt oder weicher ist, wieso die Blätter am Zweig oder die Blattadern in der Blattspreite nicht einfach anders angeordnet sind - und so weiter, und so fort. Dann wäre die Linde jedoch keine Linde. Alle möglichen Abhängigkeiten sowohl in der stammesgeschichtlichen Entwicklung der Linden als auch in der individuellen Entwicklung der Knospen, Schuppen und Blattanlagen haben zum heutigen Ergebnis geführt. Dennoch fand ich die Beobachtung erhellend und befriedigend, dass Lindenblätter sich öffnen wie ein Buch - und dass es die kleinere Seite ist, die sich beim Aufblättern nach außen bewegt.

Bei meinen Lindenblatt-Studien fiel mir noch ein Kuriosum ins Auge:

Hier ist in der individuellen Entwicklung eines einzelnen Blattes etwas schief gelaufen. Statt ein asymmetrisches Herz zu formen, ist ein Trichter entstanden, weil die beiden Seiten des sogenannten Spreitengrunds, also des Blattrands zu beiden Seiten des Blattstiels, zusammengewachsen sind:

Photosynthese kann das Blatt trotzdem treiben: eine harmlose Laune der Natur.