Diese fein ziselierten Netzwerke findet man auf den kanarischen Inseln recht häufig am Wegesrand. Woraus mögen sie bestehen, wozu dienen sie?
Hier ein weiteres, viel dichteres Exemplar - und zugleich ein größerer Ausschnitt:
Das nächste Foto zeigt des Rätsels Lösung: Es sind die dauerhaften Überbleibsel von Opuntien oder Feigenkakteen. Dieses Opuntien-Ohr stirbt gerade ab; das weiche Gewebe im Inneren ist bereits zerfallen, aber die Haut oder Epidermis ist noch intakt. Unter ihr zeichnet sich ein Netzwerk aus Leitbündeln ab. Die Leitbündel transportieren Wasser und Nährstoffe durch die Pflanze und verbinden dabei die mehr oder weniger regelmäßig angeordneten Areolen: die Inselchen, auf denen die Dornen und Haare der Kakteen sitzen.
Bei Kakteen sind die Blätter zurückgebildet; an ihrer Stelle übernimmt die Sprossachse die Photosynthese. Ein Ohr eines Feigenkaktus ist also sozusagen ein "Zweig" und kein Blatt. Die älteren Teile des Kaktus verholzen zunehmend, wie bei diesem Exemplar am unteren Rand zu sehen:
Wir erkennen auch einen großen Vorteil der netzartigen Anordnung der Leitbündel: Selbst bei größeren Beschädigungen wie dem Loch in der Mitte werden die übrigen Pflanzenteile nicht von der Versorgung abgeschnitten.
Die Leitbündel dienen nicht nur der Versorgung, sondern verleihen den Opuntien, die mehrere Meter hoch werden können, mit ihrem Holzanteil auch die nötige Stabilität. Wie in unseren Knochen ist das Netzwerk dort dichter, wo es größeren Belastungen ausgesetzt ist. Das folgende Stück (mit einer Zeigefingerkuppe als Maßstab) ist so locker, dass es vermutlich zu einem wenig belasteten "End-Ohr" gehörte.
Wie alle Kakteen stammen die Opuntien aus Lateinamerika. Auf den kanarischen Inseln wurden sie früher massenhaft angepflanzt, weil man mit ihrer Hilfe ein wertvolles Handelsgut gewinnen konnte: den roten Farbstoff Karmin.
Nicht die Pflanze selbst stellt den Farbstoff her, sondern die Cochenilleschildlaus, die auf ihr lebt. Hier ein stark befallenes Opuntien-Ohr. Die etwa fünf Millimeter großen, dunkelgrauen Läuseweibchen scheiden zu ihrem Schutz ein mehliges, weißes Wachs aus:
Hier ein einzelnes Cochenille-Weibchen von hinten:
Zerdrückt man sie, so tritt ein tiefroter Saft aus den Tieren aus. Mit diesem Farbstoff wurden unter anderem Textilien rot gefärbt. Heute wird er noch für Bio-Kosmetika, etwa Lippenstifte, verwendet. Da Karmin licht- und wärmebeständig ist, kommt es auch als Lebensmittelfarbe zum Einsatz.
Doch man muss nicht unbedingt Tiere töten, um aus Opuntien bunte Lebensmittel zu gewinnen: Auch das Fleisch der Kaktusfeigen ist leuchtend rot. Die Früchte entstehen aus befruchteten Blüten, die wiederum auf jungen Trieben wachsen. Am Anfang treiben ein paar der Areolen, also der Dornen-Inselchen am oberen Rand eines Opuntien-Ohrs aus, was dann so aussieht:
Auf dem neuen Trieb knospt die mehrere Zentimeter große, wunderschöne Blüte:
Auf diese wiederum folgt die rote Frucht:
Die meisten Früchte sind so dicht mit Areolen und folglich mit Dornen übersät, dass man besser die Finger von ihnen lässt. Bei einer Wanderung fand ich aber eine reife, kürzlich zu Boden gefallene Frucht, deren Schale fast glatt war, sodass ich es gewagt habe, sie aufzubrechen. Das Fruchtfleisch ist mit zahlreichen harten Kernen durchsetzt, die mehrere Millimeter groß sind, was den Genuss mühsam macht. Der Geschmack ist angenehm süßsauer, aber nicht überwältigend köstlich.
Trotz meiner Vorsicht habe ich beim Kosten einige Dornen in den Mund bekommen. Einer davon steckt heute, etwa eine Woche nach dem Kosten, immer noch in meinem hinteren Gaumen; ich muss wohl warten, bis mein Körper ihn resorbiert hat.
Die Farbe des Fruchtsafts ist ungeheuer intensiv, lässt sich aber zum Glück gut abwaschen:
Nach diesem schmerzhaften Selbstversuch werde ich das Sammeln und Zubereiten von Kaktusfeigen bis auf Weiteres den Profis überlassen. Was diese aus den Früchten machen, konnte ich vor anderthalb Jahren auf Teneriffa probieren: Kaktusfeigeneis - besonders gut auf dem passenden Servierteller - und mit einem Schuss Palmhonig verfeinert!