Muster- und Strukturenratebild, Oktober 2009

Rätselbild: Erosion am Strand

(Zur Auflösung und Erklärung bitte weiterlesen.)

So richtig schwer war es diesmal nicht: Selbstverständlich handelt es sich um Erosionsspuren, die abfließendes Wasser hinterlassen hat. Hier – wie üblich – das Ganze noch einmal mit einem natürlichen Größenmaßstab (Schuhgröße 39):

Erosionsspuren am Strand

Wir sind am Meer, die Flut weicht zurück, Wasser fließt vom Strand ab. Auch ohne den Fuß hat die Körnung des Untergrunds Ihnen schon einen Hinweis auf die Größenordnung der Struktur gegeben; dass es sich um ein Satelliten- oder Luftbild eines komplexen Flusssystems handelt, konnte ich Ihnen also nicht vorgaukeln. Mit etwas Fantasie und gutem Willen sind aber doch Ähnlichkeiten mit Flüssen zu erkennen, die um etwa einen Faktor 100.000 oder 1.000.000 größer sind: Wir sehen erste zarte Rinnen und "Bäche" in den "Quellgebieten"; diese verbinden sich zu einigen wenigen Hauptkanälen, die umso tiefer sind, je mehr Wasser sie führen; in der "Tiefebene" bilden sich Mäander aus; wo sie ihren Lauf ändern, bleiben "Altwasser" zurück.

Dieses Phänomen der Skaleninvarianz tritt bei vielen verzweigten Strukturen auf. Intuitiv setzen wir die Anzahlen und Längen der Rinnen erster, zweiter und dritter Ordnung usw. (also der "Spitzen", die selbst keine Zuflüsse haben, der Rinnen, die aus der Fusion dieser Spitzen entstehen, und der größeren Rinnen, die wiederum aus deren Zusammenfluss entstehen) zueinander in Beziehung und stellen fest, dass es sich hier um irgendwie "typische" Flüsse handelt, auch wenn sie nur 30 Zentimenter lang sind.

In seinem soeben erschienenen Buch "Branches", Teil 3 einer Trilogie über Muster in der Natur, beschreibt Philip Ball die Versuche von Wissenschaftlern wie dem amerikanischen Hydrologen Robert E. Horton, den Geomorphologen Arthur Strahler und Stanley Schumm oder dem Geologen John Hack, Flüsse durch allgemeine Potenz- oder Skalengesetze zu charakterisieren:

  • Die Zahl der Zuflüsse der Ordnung n ist proportional zu 1/Cn, d. h. es gibt viel weniger Rinnen hoher Ordnung.
  • Die mittlere Länge der Zuflüsse der Ordnung n ist proportional zu einer anderen Konstanten Dn, d. h. je näher an der Mündung, desto länger werden die Abschnitte.
  • Die Ordnung n hängt auch gesetzmäßig mit der jeweiligen Hangneigung bzw. dem Gefälle des Flussbetts zusammen.
  • Die Größe des Einzugsgebiet eines Zuflusses ist ebenfalls proportional zu einer Konstante hoch n.
  • Die Größe des Gesamteinzugsgebiets eines Flusssystems schließlich ist proportional zur Länge des Hauptstroms (also des Elements mit der höchsten Ordnung n) hoch etwa 0,6.

Schade nur, dass praktisch alle Arten von verzweigten Netzwerken in der Natur diesen Gesetzen gehorchen, bei weitem nicht nur Flüsse. Ähnlich wie zum Beispiel die fraktale Dimension eines Musters sagen sie im Grunde nichts über das Typische des jeweiligen Systems aus. Um die Struktur von Flusssystemem wirklich zu verstehen, muss man sich in die Physik vertiefen: Wenn Wasser ein Gefälle hinabläuft, um letzten Endes im Meer oder einem Binnensee zu landen, wandelt sich seine potenzielle Energie allmählich in kinetische Energie um, die für die Erosion sorgt, die wiederum das Flusssystem an den Spitzen wachsen und die Rinnen höherer Ordnung gelegentlich ihren Lauf ändern lässt. Ein Teil der potenziellen Energie geht dabei auch als Reibungswärme verloren; die Physiker reden von Dissipation. Das sich entwickelnde Flusssystem "versucht" die Gesamtdissipationsrate seiner potenziellen Energie zu minimieren, und verblüffenderweise sorgen rein lokale Regeln wie die, dass das Wasser sich stets den leichtesten Weg sucht, tatsächlich zu einer globalen energetischen Optimierung – wie so oft bei Selbstorganisations- und Musterbildungsprozessen in der Natur.

Philip Ball warnt allerdings zu Recht vor übereilten Verallgemeinerungen: Ähnlich wirkende Verzweigungsmuster können ganz unterschiedlich entstehen, und umgekehrt können relativ ähnliche Entwicklungsprinzipien zu unterschiedlichen Resultaten führen.

Ein Beispiel für den Fehlschluss "ähnliches Aussehen → ähnliche Entstehung und ähnliches Wesen" sind die so genannten Dendriten, Verzweigungsmuster in Gestein. Früher hielt man sie oft für pflanzliche Fossilien, aber in Wirklichkeit ist es Eisenoxid (rötlich) oder Mangandioxid (schwarz), das in gelöster Form langsam zwischen Gesteinsschichten eindringt und dann auskristallisiert, wobei die unregelmäßigen Kristalle bevorzugt an den Spitzen wachsen, die sich gelegentlich weiter verzweigen:

Eisenoxid- und Mangandioxid-Dendriten

Der Irrtum der frühen Naturforscher ist durchaus nachvollziehbar. Schließlich verästeln und verzweigen sich auch Pflanzen wie diese Bäume immer weiter:

Bäume vor Himmel

Einige der Gesetzmäßigkeiten, die man an Flusssystemen festgestellt hat, scheinen auch hier zu greifen: Es gibt erheblich mehr dünne Seitenzweige als Hauptäste, und erstere sind meist auch kürzer als letztere. Doch das Schema fällt von Spezies zu Spezies etwas anders aus (Forstbotaniker erkennen oft schon an der Silhouette, um welche Baumart es sich handelt), und die Entstehung ist ganz sicher nicht durch die Minimierung einer schlichten Energiedissipationsrate zu erklären. Vielmehr erfüllen die Äste und Zweige der Bäume mehrere Aufgaben, zum Beispiel als Stützen und als Transportwege für Wasser und Nährlösungen. Auf diese Funktionen sind sie im Laufe der Evolution optimiert worden, und die Struktur ist zum Teil genetisch festgelegt. Insofern haben sie mehr mit den Adern in einem Schmetterlingsflügel gemeinsam, die wieder anders angeordnet sind, zum Beispiel hier und da auch Querverbindungen haben:

Schmetterlingsflügel

Verzweigungen sind also ein weites Feld, mit dessen vielen ... nun ja: Verästelungen wir uns sicherlich noch öfter auseinandersetzen werden.