Dieses Muster des Monats fällt in die Rubrik "Wahrnehmungsmuster" oder "Kategorienfehler". An einem frühen Abend im September sah ich auf der Mauer neben unserem Ferienhaus auf Kreta ein Insekt herumwuseln, das ich für eine groß geratene, interessant gemusterte und kräftig behaarte Ameise hielt. Vermutlich wird es den meisten Betrachtern ebenso gehen. Obwohl das Tierchen hektisch hin und her lief und immer wieder suchend in Fugen und Löcher in der Mauer eintauchte, konnte ich noch ein weiteres scharfes Foto schießen, diesmal von hinten, sodass man die Musterung des Hinterleibs erkennt:

Mutilla quinquemaculata

Mit unserer "Wahrnehmungstäuschung" sind wird nicht allein: Diese Insekten der Gattung Mutilla werden Bienenameisen genannt. Tatsächlich gehören sie aber zur Familie der Ameisenwespen innerhalb der Unterordnung der Taillenwespen. Schon der griechische Arzt Nikandros aus Kolophon lieferte etwa 150 Jahre v. u. Z. eine treffende Beschreibung: "Wohlan nun das Myrmecion, das einer Ameise gleicht, am Halse rot, der übrige Körper ist dunkel gefärbt, überall auf dem breiten Rücken durch Tüpfel wie mit glänzenden, funkelnden Punkten besetzt ..." Da unser Exemplar einen roten Kopf und fünf helle Punkte hat, tippe ich auf die Art Mutilla quinquemaculata. Der Gattungsname Mutilla geht auf Linné zurück, der fälschlich glaubte, alle Bienenameisen seien flügellos (mutilus = verstümmelt). Tatsächlich trifft dies nur auf die Weibchen zu.

Die Bienenameisen sind Hummelschmarotzer: Ihre Larven entwickeln sich in Hummelnestern und leben von den Hummellarven und deren Nahrungsvorräten. Das hektische Herumstöbern unseres Weibchens könnte also die Suche nach einem geeigneten Wirt gewesen sein. Die auffällige Warnzeichnung deutet es schon an: Ameisenwespenweibchen können höllisch schmerzende Stiche austeilen. Daher ist es kein Wunder, dass einige andere Insekten dieses Aussehen nachahmen (Mimikry). Die Ameisenähnlichkeit der Ameisenwespenweibchen dürfte dagegen keine Mimikry sein, sondern eine Anpassung an ihre Lebensweise.

Natürlich gibt es auch echte Ameisen auf Kreta, die ebenfalls interessante Verhaltensweisen an den Tag legen. Als wir auf der Nida-Hochebene im Psiloritis-Gebirge unterwegs waren, konnten wir in der Ferne den Abtrieb einer großen Schafherde beobachten:

 

Schafe auf der Nida-Hochebende, Kreta

Als ich kurz darauf den Blick auf den Boden richtete, dachte ich zunächst, ich hätte mir einen Sonnenstich eingefangen, denn da waren ebenfalls weiße Wollknäuel unterwegs – winzige Schafe?

Ameisen mit Samen

Bei näherem Hinsehen erwiesen sich die Tiere als Ameisen, die (ihrem Namen alle Ehre machend) emsig flaumige weiße Samen durch die Gegend trugen:

Ameisen in der Nida-Hochebene

Ich musste ihren Pfad nur ein bis zwei Meter zurückverfolgen, um sie direkt bei der Ernte in einem vertrockneten, dornigen Phrygana-Kraut beobachten zu können:

Ameise in Pflanze

Am anderen Ende ihres Pfads befand sich unter einem großen Stein ihr Bau:

Ameisenbau unter Stein

Ob Ameisen gerne auf flaumigen Federbetten schlafen? Vermutlich sind sie eher auf die nahrhaften Samen aus, an denen der Flaum hängt. Vielleicht setzt die Pflanze sogar auf die Verbreitung durch Ameisen (Myrmekochorie), oder auf eine Kombination aus Anemochorie (Verbreitung durch den Wind) und Myrmekochorie. Leider konnte ich das Kraut bzw. den Halbstrauch noch nicht bestimmen. Falls jemand die stark behaarten Fiederblättchen erkannt hat: Ich wäre für einen Hinweis dankbar.