Der vergangene Monat war ein außergewöhnlich kalter April, zumindest für das 21. Jahrhundert: dem Deutschen Wetterdienst zufolge der kälteste seit 40 Jahren. Vermutlich hat das zu jenem außergewöhnlichen, höchst eindrucksvollen Phänomen beigetragen, über das ich hier mit vielen Bildern berichte.

Am 9. April habe ich nach der Arbeit noch eine kleine Runde auf dem Rad gedreht, wie üblich am Rheinufer im Kölner Norden. Da ich nicht viel Zeit hatte und nichts Besonderes zu sehen erwartete, hatte ich nur das Smartphone mit der schlechten Kamera dabei. 

Ein noch völlig kahler Baum hatte seine Warnweste angezogen: Er war über und über mit orange leuchtendem Schleim überzogen, vor dem ich hier wegen des knackigen Farbkontrasts einen Frühblüher fotografiert habe, den Gundermann:

An einem der nächsten Tage bin ich mit einer besseren Kamera zurückgekehrt. Die Konsistenz des Schleims war schaumig-elastisch; eine milchige Flüssigkeit tropfte von ihm auf den Boden: 

Wo die Quellen der Schleimflüsse lagen, war schwer zu erkennen. Ich vermutete aber Wunden an den Ästen und Zweigen der Krone, vielleicht von den Buntspechten gepickt, die in diesem Park immer wieder mal zu hören und zu sehen sind. Der Baum scheint schon öfter verletzt worden zu sein. Diese große und tiefe Wunde im unteren Stammbereich ist gut abgeheilt:

Natürlich habe ich auf dem Schleim nicht nur herumgedrückt, sondern auch an ihm geschnuppert (hefig-alkoholisch) und sogar vorsichtig ein kleines Stück zwischen die Schneidezähne genommen und daran geschmeckt (absolut neutral). Und ich habe eine Probe mit nach Hause genommen:

Die braunen und dunkelgrünen Stellen sind der Algenbelag der Rinde, der beim Abziehen am Schleims haften blieb. Aber woraus besteht "Blob" selbst?

Erste Recherchen ergaben: Das Phänomen heißt "roter Schleimfluss" und tritt bei bestimmten Baumarten unter bestimmten Witterungsbedingungen im frühen Frühjahr auf, wenn die Säfte auf den Wurzeln in die Krone steigen und dort wegen des Wurzeldrucks aus Rindenwunden austreten. Der zucker- und aminosäurereiche Baumsaft wird dann von Hefepilzen, Essigsäure- und Milchsäurebakterien besiedelt. Als ich das gelesen hatte, habe ich aus Teilen meiner Probe gleich mal einen Weizen- und einen Roggen-Sauerteig angesetzt. Beide pflege ich heute noch; sie sind aber leider nicht mehr orange und enthalten vermutlich eher Hefen aus dem Mehl als aus dem Schleim. Aber vielleicht gehen wenigstens die Bakterien in den Sauerteigen noch auf den Schleim zurück.

Die wichtigste Hefe im roten Schleimfluss ist Phaffia rhodozyma, ein imperfekter Pilz, der sich normalerweise nur asexuell fortpflanzt, also über sogenannte Mitosporen oder vegetativ. Mittlerweile hat man ein Pendant mit vollständigem sexuellem Fortpflanzungszyklus gefunden; es trägt den Artnamen Xanthophyllomyces dendrorhous. P. rhdozyma ist also, was die Pilzforscher oder Mykologen als Anamorphe bzw. Nebenfruchtform von X. dendrorhous bezeichnen.

Ehrlich gesagt ist mir das vielfältige Sexualleben der Pilze zu hoch; ich erinnere mich mit Schaudern an die elendige Büffelei für das Vordiplom und die Diplomprüfung. Wenden wir uns dem eigentlichen Faszinosum zu: der geradezu schockierenden Farbe. P. rhodozyma produziert ein Carotinoid namens Astaxanthin, das auch Shrimps (und damit Flamingofedern), Lachse und Hummer orangerot färbt. Tatsächlich heißt Astaxanthin wörtlich "Hummer-Gelb". Die Lebensmittelindustrie ist an diesem Pigment sehr interessiert und forscht seit Jahrzehnten an Möglichkeiten, es kostengünstig und in großem Stil herzustellen - bzw. von Phaffia rhodozyma herstellen zu lassen. Das gelingt aber bislang nicht so recht, unter anderem, da diese Hefe kühlere Temperaturen bevorzugt, als sie in Bioreaktoren normalerweise herrschen.

Ein paar Tage nach der Proben-Entnahme war ich wieder beim Baum. In der Zwischenzeit hatte es nicht geregnet, und der Schleim war teilweise eingetrocknet und hatte sich etwas entfärbt:

An einigen Stellen oben in der Krone leuchtete er aber weiterhin krebsrot. Beim Trocknen bildete die zähe Schleimschicht Runzeln aus, weil die Oberfläche bereits zu starr war, um sich einfach zu verkleinern:

Wieder ein paar Tage später war der Regen zurückgekehrt. Der alte Schleim quoll zum Teil wieder auf, und frischer Baumsaft sickerte auf denselben Wegen die Äste und den Stamm herab.

An einigen wenigen Stellen konnte ich beobachten, dass der Baumsaft, wenn er aus Wunden wie abgeschnittenen Zweigen austritt, zunächst einen weißen Schleim bildet, der erst später von den Hefen besiedelt und dann vom Astaxanthin orange gefärbt wird: 

Etliche Wespen interessierten sich für den Schleim, landeten auf ihm und versuchten Bissen herauszutrennen - angelockt vermutlich von der alkoholischen Gärung, bei der die Hefe den Zucker im Baumsaft zu Ethanol umwandelt: 

Von diesem Ethanol und von den Aminosäuren im Schleim leben dann wiederum die Essigsäure- und Milchsäurebakterien, die zusammen mit Phaffia den Kernbestand der komplexem Lebensgemeinschaft im roten Schleimfluss darstellen.

An einigen Stellen bildeten sich auf der trockenen Oberfläche weiße Stellen. Ob das Fruchtkörper für die Mitosporen waren oder eine sekundäre Besiedlung durch einen weiteren Pilz, weiß ich nicht.

An anderen Stellen hatte eindeutig Schimmel den alten Schleim besiedelt, um sich von dessen Substanz zu ernähren:

Am Anfang dieser langen, komplexen und noch nicht erschöpfend erforschten Verwertungskette standen die steigenden Säfte des Baums, den ich bis dahin immer noch nicht hatte bestimmen können. Aber dann öffneten sich seine Knospen:

Die eigentümliche Zickzack-Wuchsform der Zweige hätte mir schon vorher den entscheidenden Hinweis geben können, wenn ich mich mit den nicht einheimischen Gehölzen besser auskennen würde: 

Es handelt sich um den Wechselblättrigen Hartriegel (Cornus alternifolia) aus Nordamerika, wie die charakteristisch geäderten und rötlich gesäumten Blätter verraten:

Zugleich mit den Blättern wurden die künftigen Blütenstände sichtbar, aber bis heute (23. Mai) haben sich die Blüten noch nicht geöffnet - was auch am weiterhin viel zu kühlen Wetter liegen mag:

Die Art passt jedenfalls: Neben der Birke, der Buche und dem Ahorn wird auch die Gattung Cornus in der Baumschleim-Literatur genannt. Beobachten lässt sich Schleimfluss an Bäumen, deren Säfte im frühen Frühjahr besonders üppig fließen - was Mensch und Tier bei der Birke und bei bestimmten Ahorn-Arten auch gerne nutzen, um sich in einer ansonsten mageren Zeit an der nahrhaften Flüssigkeit zu laben. Aus allerlei natürlichen, etwa durch Frostrisse, Insekten oder Vögel zugefügten oder aber vom Menschen durch Beschnitt erzeugten Wunden treten die Säfte aus. Besiedelt werden sie von Hefesporen und bakteriellen Dauerformen, die seit dem letzten Befall in der Borke überdauert haben oder durch die Luft fliegen. Die Besiedlung schadet den Bäumen zumeist nicht. Auch der knapp 10 Meter hohe Hartriegel macht keinen kranken Eindruck.

Ein so massiver und so intensiv gefärbter Schleimfluss wie hier ist äußerst selten. Der italienische Mykologe Paolo Davoli, mit dem ich mich ausgetauscht habe, weil er 2005 und 2006 zwei Artikel zum Thema mitverfasst hat, wirkte glatt ein wenig neidisch, als ich ihm Fotos schickte. Und er schrieb mir über pigmentierten Schleimfluss: "They are rather unusual and unexpected, and most overlooked as well, unless you really keep your eyes wide open and tuned on their wavelength!"

In der Tat: Es lohnt sich immer, mit wachem Blick (und der guten Kamera!) unterwegs zu sein. Von all den Spaziergängern und Radfahrerinnen, die im April und Mai während meiner Besuche im Park unterwegs waren, hat niemand auch nur einen flüchtigen Blick auf den Flamingo-Baum geworfen. Und dabei hat es sich solche Mühe gegeben mit seinem neonfarbenen Gewand!

 

Nachtrag, 5. Juni: Der Hartriegel blüht! Und dank der üppigen Niederschläge finde ich unter ihm immer noch elastische orange "Gummistücke".

 

Literatur:

ScienceDirect: Phaffia rhodozyma

Roland W. S. Weber, Paolo Davoli, Heidrun Anke (2006): A microbial consortium involving the astaxanthin producer Xanthophyllomyces dendrorhous on freshly cut birch stumps in Germany

Diego Libkind, Alejandra Ruffini, Maria van Broock, Leonor Alves, José Paulo Sampaio (2007): Biogeography, Host Specificity, and Molecular Phylogeny of the Basidiomycetous Yeast Phaffia rhodozyma and Its Sexual Form, Xanthophyllomyces dendrorhous