Hierzulande läuft bekanntlich alles wie am Schnürchen. Na gut, manchmal ist das Schnürchen vielleicht ein bisschen struppig und morsch ... Aber wieso bin ich überhaupt unter die Steinzeithandwerker gegangen, und was hat das in der Baumkolumne zu suchen?

Bei manchen uralten Techniken, die mehrere Bearbeitungsschritte erfordern, bevor man erstmals ein halbwegs brauchbares Produkt in Händen hält, fragt man sich ja, wie unsere Urahnen darauf gekommen sind. Wahrscheinlich haben sie sich vieles aus der Natur abgeguckt. Die Herstellung von Schnüren setzt beispielsweise die Gewinnung und die Rotte von Bast voraus, also das Abschälen der Rinde von den Ästen bestimmter Baumarten und das wochenlange Wässern, bei dem organisches Material verfault und sich von den Fasern löst. Aber manchmal erledigt die Umwelt diese Arbeitsschritte für uns. So war es im Februar und März in den Rheinauen im Kölner Norden: Nach einem kräftigen Hochwasser, bei dem der Fluss sich die Wiesen komplett einverleibte, kam der Frost. Dann schmolz und sank das Wasser; zurück blieben Schlamm und Treibgut. Inzwischen kann man die Wiesen längst wieder betreten.

Vor einigen Tagen war ich unter dieser Gruppe alter Bastard-Schwarz-Pappeln unterwegs, die von Zunderschwämmen befallen sind, zum Teil schon ihre Kronen eingebüßt haben oder bei einem der letzten Stürme auseinandergebrochen sind: 

Der Boden ist dort übersät mit filigranen Pappelblatt-Skeletten, deren Entstehung ich hier bereits vor einem Jahr erklärt habe: 

Es gibt also Umstände, die selektiv einen Teil des organischen Materials (hier die sogenannten Interkostalfelder zwischen den Blattadern) zersetzen, andere Strukturen (hier die ligninreichen Leitbündel in den Blattadern) aber nicht antasten. 

Auch gröbere Strukturen können sich so in etwas verwandeln, das uns als Rohstoff nützt. Die bereits vor dem Hochwasser zerbrochenen oder gefällten Pappelstämme zum Beispiel, die von Wasser und Eis, Insekten und Mikroben sauber abgeschält wurden und ein wenig wie abgenagte Knochen wirken:

Nicht weit entfernt ist gerade eine weitere Pappel gefällt und zersägt worden, an deren frischer Schnittfläche ich zeigen kann, welche Schichten im vorigen Foto fehlen. Fangen wir in der Mitte an. Wie bei vielen Baumarten ist das physiologisch inaktive, also tote Kernholz durch Phenole eingefärbt; hier ist es hellbraun mit einem Graustich. Der dunklere Ring dürfte durch die Schädigung des Baums zustande gekommen sein, der massiv vom Zunderschwamm befallen war, einem Weißfäule-Pilz, und in den wohl Feuchtigkeit eingedrungen ist. Ringsum sehen wir das physiologisch aktive, also bis zur Fällung noch lebende, helle, bei der Pappel oft fast weiße Splintholz.

Daran schließt sich das schmale Kambium an, jene Wachstumsschicht, deren Zellen sich zeitlebens weiter teilen und am inneren Rand zu neuen Holzzellen, am äußeren Rand dagegen zu neuen Rindenzellen heranreifen. Die Rinde der Pappel ist ganz schön dick. Ihre inneren Schichten leben und transportieren im Sommerhalbjahr wertvolle Photosynthese-Produkte (Zucker und Aminosäuren) von der Krone in die Wurzeln. Diese Schichten werden als Phloem oder Bast bezeichnet. Die äußeren Rindenschichten heißen Borke; sie leben nicht mehr, schützen aber die lebenden Schichten mechanisch. Da die tote Borke nicht mit dem Rest des Baumes mitwachsen kann, bricht sie mit der Zeit zu Längsstreifen auf, die hier im Querschnitt als rotbraune Trapeze, Dreiecke oder Halbkreise zu sehen sind.

In diesem Ausschnitt habe ich die Grenzschicht zwischen Holz und Rinde, das Kambium, mit weißen Strichen gekennzeichnet; außerhalb (hier rechts im Bild) sehen wir den rötlichen Bast und die orangebraune Borke:

Die vom Hochwasser geschälten Bäume haben also das Kambium, den Bast und die Borke eingebüßt, die zum Teil wild durcheinander unter den Stämmen liegen. Hier ein großes Stück Bast, teilweise noch feucht und rötlich, teils schon trocken, zu Streifen zerfallen und ausgeblichen:

Die Bastschichten lassen sich leicht auseinanderziehen und verführen in diesem Stadium schon zum Basteln:

Der Duden ist sich übrigens nicht sicher, vermutet aber, dass hinter dem spätmittelhochdeutschen Wort pästlen (Handwerkerarbeit verrichten, ohne in einer Zunft zu sein) das althochdeutsche Verb besten (binden, schnüren) stecken könnte, das wiederum mit Bast zusammenhängt.

Wenn die Mikroben, der Frost und die Strömung noch gründlichere Arbeit leisten, zerfallen die Bastschichten weiter zu solchen Fasern: 

Hier haben die Naturgewalten einen Pappelstamm zwar nicht komplett geschält, aber so abgeschmirgelt, dass die Borke rechts schon ganz glattgeschliffen ist. Und unter ihr treten wiederum bleiche Bastfasern zutage:

Genau diese Fasern habe ich abgezogen und flüchtig zu einer Schnur verdreht:

Die Schnur war allerdings nicht besonders reißfest. Das werden unsere Urahnen auch schon festgestellt haben: Der Bast unterschiedlicher Baumarten eignet sich nicht für jedes Produkt gleichermaßen, und er muss mal länger, mal kürzer rotten, bevor man ihn weiterverarbeiten kann. Pappelbast ist ziemlich spröde. 

Nach diesem Ausflug an den Rhein und in die Steinzeit verstehe ich nun besser, wie die Menschen damals auf die Idee kamen, die inneren Rindenschichten bestimmter Bäume und Sträucher abzuschälen und in Wasser kontrolliert vergammeln zu lassen, um daraus Schnüre, Taschen, Körbe und Kleidung herzustellen: Wenn man zur rechten Zeit am richtigen Ort ist, muss man nur genau hinsehen, um die Grundzüge dieser Prozesse in der Natur zu erkennen.