sehr dichte Rhizomorphe auf totem Holunder

Diesen Kabelsalat habe ich vor gut zwei Jahren an einem toten Holunder entdeckt. Der Abstand zwischen den beiden im Bild von oben nach unten laufenden "Hauptleitungen", zwischen denen zahlreiche Querverbindungen verlaufen, beträgt etwa 1,5 Zentimeter. Wer mag die schwarzen Drähte oder Röhren angelegt haben? 

Ich war damals eigentlich nur an den Misteln auf der benachbarten Pappel interessiert und bin dem Zufallsfund nicht weiter nachgegangen. Aber letztes Wochenende habe ich in der Nähe noch einmal auf einem toten, halb entrindeten Baum schwarze Kabel entdeckt, wenn auch weniger dicht und irgendwie eingefallen oder plattgedrückt:

dunkle kabelartige Strukturen auf einem rindenlosen toten Baumstamm

An dieser Verzweigungsstelle, die mich an eine Nervenzelle mit ihren Ausläufern erinnert, erkennt man an den abgerissenen Strängen, dass sie innen hell sind:

verzweigte Rhizomorphe; an abgerissenen Seitenzweigen erkennt man das helle Innere

Einige der Kabel verschwanden unter einem Rindenstück, das noch nicht abgeplatzt war. Ich hob es an und fand darunter zwei Asseln und eine fast amorphe dunkle Substanz vor, in der man gerade noch so einzelne Stränge ausmachen kann:

Fortsetzung der Rhizomorphe aus dem vorigen Bild unter der hochgeklappten toten Rinde; zwei Asseln sitzen zwischen den Strängen

Eine kurze Recherche ergab, dass es sich um sogenannte Rhizomorphen handelt. Eine Rhizomorphe besteht aus Pilzhyphen; so heißen die Zellfäden, aus denen Pilze aufgebaut sind. Und sie heißt nicht nur "wurzelförmig" (altgriechisch: rhíza = Wurzel, morphé = Gestalt), sondern hat auch eine ähnliche Funktion: Sie transportiert in ihrem Inneren gelöste Nährstoffe, die der Pilz aus der geschwächten Wirtspflanze gewonnen hat, an eine andere Stelle im mitunter riesigen Myzel, wo sie zum Weiterbau des Pilzgeflechts benötigt werden. Wie das übrige Pilzgewebe auch bestehen Rhizomorphen im Wesentlichen aus Chitin, wie die Exoskelette von Insekten und Krebsen; Pilze sind ja in mancher Hinsicht den Tieren ähnlicher als den Pflanzen. Die schwarze Farbe in ihrer äußersten Schicht ist Melanin, das zum Beispiel auch unsere Haare dunkel färbt. Es schützt die Struktur vor dem Abbau durch Mikroorganismen - so gründlich, dass die Kabel noch fortbestehen, wenn die Rinde und die pflanzlichen Zellschichten, in die das Netzwerk einst eingebettet war, schon längst verrottet sind.

Pilzgewebe ist - dafür, dass es eigentlich immer aus verzweigten Zellfäden besteht - unglaublich vielgestaltig. An den abgestorbenen Teilen der Holunderbäumchen neben der Pappel wachsen zum Beispiel jeden Winter Judasohren - die Holunderpilze schlechthin: 

Judasohr, eine im Winter auf Holunder

Auf dem toten Baum, an dem ich die schwarzen Kabel nun wiederentdeckt habe, fand ich auch diese zarten Glimmertintlinge (glaube ich zumindest; ich bin aber keine Pilzkennerin):

Fruchtkörper eines Glimmertintlings, an einer Stelle angefressen, sodass man die Lamellen sieht

Zwischen den hellbraunen Stegen des Huts erkennt man poröses, schaumig wirkendes Gewebe, das aus weißen Hyphen zusammengesetzt ist:

Makroaufnahme des Huts eines Glimmertintlings

Aber es war nicht der Glimmertintling, der den Baum verkabelt hat, sondern höchstwahrscheinlich ein Hallimasch. Für diesen weit verbreiteten Pilz, über dessen Eignung als Speisepilz die Meinungen weit auseinandergehen (unbedingt gründlich garen!), sind schwarze Rhizomorphen ganz typisch, und zwar tatsächlich oft an Holunder - wobei Hallimasch alle möglichen Laub- und auch Nadelbäume befallen kann.

In einem Pilzforum, in dem ich Fotos von Hallimasch-Rhizomorphen fand, merkten einige Pilzfans an, dass sie an Holunder zwar schon ab und zu die schwarzen Kabel bemerkt hätten. aber noch nie Hallimasch-Fruchtkörper. Aus irgendwelchen Gründen befällt der Hallimasch zwar den Holunder und entzieht ihm Nährstoffe, aber er nutzt ihn nicht, um Hüte auszubilden. 

Warum der Hallimasch so gerne Haupt- und senkrecht davon abzweigende Neben-Rhizomorphen ausbildet, bleibt vorerst ebenfalls sein Geheimnis. Mich erinnerte diese Anordnung vage an das folgende Muster, dem ich mich hier demnächst noch einmal ausführlicher widme:

Borkenkäfer-Fraßspuren

Wie der Hallimasch bedient sich auch der Borkenkäfer an den Nährstoffen, die im Baum eingelagert sind. Aber trotz der oberflächlichen Ähnlichkeit in Form und Funktion der beiden Gebilde sind die Mechanismen, durch die sie entstehen, ganz verschieden - wie so oft in der Welt der Muster und Strukturen in der Natur.