Laubholz-Misteln können wir das ganze Jahr sehen, aber im Winter fallen die grünen Kugeln im kahlen Geäst besonders auf. Zu den Schmarotzern gäbe es viel zu sagen, und sie bergen für die Wissenschaft noch einige Rätsel. Hier in der Reihe "Muster des Monats" beschränke ich mich auf einen Aspekt: Wie kommt die Kugelform zustande? 

Die Laubholz-Mistel ist eine Unterart der Weißbeerigen Mistel (Viscum album); die anderen Unterarten befallen Nadelbäume. In Laubbäumen erreichen sie ein Alter von bis zu 70 Jahren und einen Kugeldurchmesser von etwa einem Meter - wenn der Ast, mit dem sie verwachsen sind, nicht zuvor von einem Sturm gefällt wird. Dazu gleich mehr, denn nur dank eines Wintersturms konnte ich einige Misteln aus der Nähe betrachten und fotografieren.

Viele Laubbäume wehren sich erfolgreich gegen die Schmarotzer; diese Arten nennt man "mistelfest". Witzigerweise sind Misteln selbst nicht mistelfest: Sie können ihrerseits besiedelt werden, wenn etwa ein Vogel beim Festschmaus einen der klebrigen Samen aus den weißen Früchten fallen lässt. Dann ist die schöne Kugelform natürlich dahin!

Besonders oft besiedeln Laubholz-Misteln Birken, Ahorne (etwa jenen auf dem ersten Foto) oder Pappeln - so auch hier die beiden großen Bastard-Schwarzpappeln am Lentpark-Parkplatz in Köln:

Also: Wie kommt die für Pflanzen absolut untypische Kugelgestalt zustande? In der Biologie unterscheiden wir zwei Arten von Ursachen: die ultimate Ursache, also die Antwort auf die Frage nach dem Zweck oder der Funktion der Kugelform, und die proximate Ursache, also die Antwort auf die Frage nach den Wirkmechanismen, die zu der Form führen. 

Drehen wir den Spieß einmal um: Warum sind andere Gefäßpflanzen nicht kugelförmig, sondern richten ihre Sprossachse nach oben? Genau: Sie suchen das Licht, um das sie mit zahlreichen anderen Gewächsen in ihrer Nachbarschaft konkurrieren. Denn nur wenn ihre Blätter genug Licht bekommen, können sie effizient Photosynthese betreiben, mit der sie Energie gewinnen und Bausteine für ihr weiteres Wachstum synthetisieren können. Dieser Selektionsdruck hat unzählige Arten hervorgebracht, deren Wurzeln zumindest anfangs in Richtung des Schwerkraftvektors wachsen, um den Organismus fest im Boden zu verankern, und deren primäre Sprossachsen entgegen dem Schwerkraftvektor nach oben schießen, bevor sie Verzweigungen oder sekundäre Sprossachsen ausbilden. Solange die Konkurrenz noch stark ist, dominiert das Längenwachstum der primären Sprossachse. Später bilden etwa Laubbäume Kronen aus, wachsen also oben in die Breite - und beschatten damit ihr Umfeld, was dort wiederum viele Pflanzen eingehen oder ihrerseits in die Höhe schießen lässt. So kommt die klassische gestreckte Gestalt der meisten Pflanzen zustande. Dass die Bäume nicht ewig weiter in den Himmel wachsen, liegt an ihrem Wasserbedarf: Die Wurzeln nehmen das Wasser aus dem Boden auf, und durch die Verdunstung in der Krone entsteht ein Sog, der es durch dünne Röhrchen im Stamm (die sogenannten Gefäße oder das Xylem) entgegen der Schwerkraft nach oben saugt. Ab einer gewissen Höhe würde die Wassersäule abreißen und der Baum sterben, weil dann die Schwerkraft überhand nähme. 

Misteln entziehen sich dem Zwang, vom Boden aus zu starten und während des Längenwachstums den Nachschub an Wasser und gelösten Mineralstoffen aufrecht zu erhalten: Sie zapfen einfach das Xylem ihrer Wirte an - anders als etwa die tropischen Bromelien, die ebenfalls zu den Aufsitzerpflanzen gehören, aber selbst Wasser sammeln müssen. Und sie sparen sich den Wettlauf ums Licht, indem sie sich oben in den Kronen von Bäumen ansiedeln. Mit ihren mehrjährigen Laubblättern können sie auch im Winter Photosynthese treiben, wenn die Laubbäume kahl sind. Auch ihre Zweige bleiben grün und helfen bei der Photosynthese. Um das Licht dort oben optimal zu nutzen, bietet sich die Kugelform an: So beschatten sich die Mistelblätter gegenseitig am wenigsten, sie maximieren die Lichtausbeute. Photosynthese wird ja nicht nur bei Sonnenschein betrieben; das diffuse Streulicht in den Kronen reicht völlig aus. 

So viel zum Zweck. Kommen wir zur proximaten Ursache, zum "Wie": zum Wachstumsmodus, durch den die Misteln im Lauf der Jahre kugelförmig werden. Um das zu verstehen, müssen wir den Lebenszyklus der Mistel nachvollziehen.

Es gibt weibliche und männliche Mistelpflanzen. Die weiblichen Exemplare erkennt man im Winter an ihren perlenartig schimmernden weißen Früchten. In dieser Zeit werden ihre Zweige auch als Adventsschmuck angeboten:

Im Spätwinter und Vorfrühjahr bilden sich neben den Früchten winzige gelbliche Blüten, die von Fliegen befruchtet werden. (Hier kommt der oben erwähnte Sturm ins Spiel: Er hat Zweige und Äste von einer der beiden Pappeln gerissen, sodass ich einige Misteln aus der Nähe fotografieren konnte.)

Bis zum Spätherbst wächst aus den befruchteten weiblichen Blüten die nächste Perlen-Generation heran. Die reifen Früchte werden im kargen Winter von bestimmten Vogelarten sehr geschätzt, etwa von der Misteldrossel. Aber auch Kleiber und Blaumeisen fressen sie gerne - und verbreiten dabei die extrem klebrigen Samen. Der Kleisterschicht um die Samen verdanken die Misteln ihren Gattungsnamen Viscum, der vom spätlateinischen viscosus (klebrig) abgeleitet ist. Kleine Vögel wie Blaumeisen streifen den klebrigen Samen gerne an Zweigen ab und fressen nur das Fruchtfleisch. Größere Vögel schlucken die Früchte ganz, scheiden aber die Samen einschließlich der Kleisterschicht unverdaut wieder aus. "Samen" stimmt übrigens nicht ganz, denn die eigentlichen Samen keimen schon im Inneren der Früchte, die dann bereits chlorophyllhaltige, also zu Photosynthese fähige Embryonen enthalten, wie man hier sieht:

Die Kleisterschicht aus Zellulose und Zuckern sorgt dafür, dass die abgestreiften oder mit dem Kot wieder ausgeschiedenen Mistel-Embryonen an Zweigen haften bleiben - und zwar oft in der Nähe ihrer "Mütter", mithin auf einem nicht mistelfesten Baum. Ideale Bedingungen für die weitere Entwicklung:

Die nächsten Schritte konnte ich leider nicht selbst beobachten: Im Frühling schiebt sich ein Keimling aus dem Kleisterklumpen und wendet sich sogleich vom Licht ab: Er bildet eine Haftscheibe an der Rinde seines künftigen Wirts. Aus diesem sogenannten Haustorium dringt dann eine erste Senkwurzel in die Rinde ein. Sie scheidet ein Enzym ab, das die Rindenzellen in ihrer Nähe auflöst, und bettet sich in die lebende Rindenschicht, das Kambium, ein. Von der Primärwurzel der jungen Mistel zweigen immer mehr sekundäre Wurzeln ab, die sich in der Rindenschicht zu allen Seiten ausbreiten und ein Netzwerk bilden. An einem toten Zweig unter der Pappel konnte ich dieses Geflecht sehen, denn die Rinde war bereits verrottet, das etwas robustere Material der Mistelwurzeln aber noch nicht: 

Die Mistelwurzeln flanschen sich an das Xylem des Baumes an und zapfen daraus Wasser und Salze ab. Und es entsteht ein Spross, der sich nun durch die Rinde des Zweigs nach außen schiebt und anfängt, Photosynthese zu betreiben. Er wächst langsam und verzweigt sich jedes Jahr einmal in mehrere neue Sprossabschnitte. Hier sieht man die Austrittstellen mehrerer Sprosse, darunter auch eine ganz frische Knospe:

Das Alter einer Mistel kann man abschätzen, indem man die Sprossabschnitte bzw. die ringartigen Knoten zwischen dem Wirtszweig und den Sprossenden durchzählt. An den Sprossenden stehen die propellerförmigen, fleischigen Laubblätter der Mistel, deren Ober- und Unterseite sich kaum unterscheiden. Anders als übliche Laubblätter richten sie sich nicht nach der Sonne aus, sondern betreiben auf beiden Seiten Photosynthese. Sie halten zwei oder drei Jahre und fallen dann ab, während sich an den neuen Spitzen des Triebs, der ja inzwischen ein oder zwei neue Jahresabschnitte ausgebildet und sich weiter verzweigt hat, neue Blätter entstehen.

Es gibt also keine dominante primäre Sprossachse, sondern die Triebe verzweigen sich jedes Jahr an ihrer Spitze in zwei bis fünf etwa gleich lange neue Triebe. Schon nach wenigen Jahren wachsen diese Triebe in alle erdenklichen Richtungen, woraus sich in der Summe eine Kugel ergibt. Anfangs ist sie noch etwas unregelmäßig. Aber vorwitzige Triebabschnitte an der Außenseite sind dem Wind besonders stark ausgesetzt und brechen leichter ab. 

An diesem toten Mistel-Skelett, das ich ebenfalls unter einer den beiden Pappeln fand, sieht man schön, wie der besondere Verzweigungsmodus zu einem Wachstum ohne Vorzugsrichtung führt. Ein Trieb kann durchaus genau in die entgegengesetzte Richtung wachsen wie sein Vorgänger vor zwei oder drei Jahren: 

 Mit der Zeit werden die immer Kugeln so immer regelmäßiger und dichter:

So viel zur ultimaten und zur proximaten Ursache der Mistel-Form: Der Zweck ist die Maximierung der Lichtausbeute, das Mittel ein wirtelartiges Verzweigungsmuster ohne dominanten Haupttrieb.

Ein paar Misteln schaden einem Baum nicht weiter, aber es kann auch zu viel werden - vor allem, wenn der Klimawandel die Wasserbeschaffung zum Nadelöhr für die Baumgesundheit macht. Oft stirbt dann ein befallener Ast komplett ab und wird vom Sturm abgerissen. Ein radikaler Rückschnitt ist auch die einzige Chance für Ostbauern oder Gärtner, um Misteln loszuwerden. Nur die grünen Kugeln selbst zu entfernen ist nicht nur witzlos, sondern schädigt den Baum sogar. Denn die Schmarotzer können dann keine Photosynthese mehr betreiben, ihren Lebensunterhalt also gar nicht mehr selbst bestreiten. Die Mistelwurzeln bedienen sich dann nicht nur am Wasser, sondern auch an den organischen Nährstoffen des Baums - und schlagen schließlich an mehreren Stellen neu aus.