Weiße Kuhlen mit dunklen Rändern, dicht an dicht, bilden ein unregelmäßig polygonales Muster - was mag das sein? Und wie ist die Struktur entstanden?

Im September waren wir im Kaisertal in Tirol. Trotz des spätsommerlichen Wetters haben wir auch Schnee gesehen, und zwar gar nicht weit entfernt von unserer Hütte. Hier habe ich das Altschneefeld, von dem das Detailbild oben stammt, rot eingekreist:

Man kommt an ihm vorbei, wenn man vom Hans-Berger-Haus, das knapp 1000 Meter über dem Meeresspiegel steht, zum Oberen Scharlinger Boden hinaufwandert. Es liegt an den Koordinaten 47°34'03.9"N und 12°17'08.4"E auf etwa 1350 m und wird meist von den umliegenden Bergen beschattet, bekommt aber zumindest im September vormittags auch eine Weile direktes Sonnenlicht ab.

Wie die wenigen anderen Schneefelder, die zu sehen bekamen, liegt es am Nordhang einer Gebirgskette namens Wilder Kaiser. Der Wilde Kaiser erstreckt sich vom Inntal im Westen nach Osten, genau wie der Zahme Kaiser, der ein Stück nördlich liegt. Diese beiden Gebirgszüge begrenzen das Kaisertal, das im Westen ins Inntal einmündet und an dessen Ostende das Hans-Berger-Haus liegt. Hier ein Blick in das Tal gen Osten; linker Hand die Gipfel des Zahmen, rechts die Gipfel des Wilden Kaisers:

Wenn ein Schneefeld so spät im Sommer noch existiert, wird es nicht viel weiter abschmelzen, bevor der Frost und schließlich der Neuschnee kommt. Die Felder sind also (bisher zumindest - Stichwort Klimawandel!) permanente Landmarken und werden entsprechend in Karten eingetragen. Hier eine handgemalte Panoramakarte auf dem Stripsenjoch, einem Pass hinter dem Ostende des Kaisertals, der den Zahmen mit dem Wilden Kaiser verbindet:

Das "Schneeloch" an der Nordflanke der Hinteren Karlspitze haben wir vom Stripsenkopf, einem Gipfel des Zahmen Kaisers oberhalb des Stripsenjochs, tatsächlich gesehen (roter Kreis in der Bildmitte):

Zurück zu den weißen, dunkel eingefassten Kuhlen. So sieht ein solches Schneefeld aus der Nähe aus:

Die Vertiefungen werden in der Fachliteratur als ablation hollows, also Ablationskuhlen, oder als suncups, also Sonnenbecher, bezeichnet. Ablation nennen Meteorologen das Abschmelzen und die Sublimation (also den direkten Übergang von fest zu gasförmig) von Schnee und Eis. Der zweite Name gibt einen Hinweis darauf, welche Kräfte mutmaßlich aus der glatten Oberfläche einer frischen Schneedecke im Laufe der Schneeschmelze im Frühjahr und Sommer eine solche Pockennarbenlandschaft formen, die zum Teil an die im letzten "Muster des Monats" behandelte Wabenverwitterung erinnert: Das Sonnenlicht spielt eine Schlüsselrolle.

Fällt das Sonnenlicht, das sowohl sichtbare als auch Wärmestrahlung enthält, auf den Schnee, so wird ein Teil der Energie absorbiert und bringt den Schnee zum Schmelzen. Der Rest wird nicht einfach reflektiert wie von einem Spiegel, sondern in alle möglichen Richtungen gestreut, da Schnee ein feines Granulat ist, zwischen dessen Körnern die Strahlen hin und her geworfen werden. Das Licht kann nur wenige Zentimeter tief in eine Schneeschicht eindringen. Von einem Sonnenstrahl, der von oben auf eine zufällig in der Schneeoberfläche entstandene Delle fällt, wird ein größerer Anteil absobiert und ein geringerer Anteil in die Luft zurückgeworfen ...

... als von einem Strahl, der auf eine ebenso zufällig entstandene kleine Erhebung fällt:

Das führt dazu, dass der Boden einer konkaven Kuhle stärker abschmilzt als der Rücken einer konvexen Kuppe: ein typischer Selbstverstärkungsmechanismus, durch den die Kuhlen wachsen, bis sie irgendwann aneinanderstoßen und zwischen ihnen umgekehrt v-förmige Stege oder Ränder stehen bleiben.

Hinzu kommt, dass ein großer Teil der von der Oberfläche einer Kuhle in die Luft zurückgestreuten Strahlung an einer anderen Stelle derselben Kuhle erneut auf die Oberfläche trifft, wo wiederum ein Teil absorbiert wird, also zum Schmelzen beiträgt, und der Rest erneut in die Luft zurückfällt. Auch von den drei sekundären Auftreffpunkten rechts in dieser Skizze gehen wiederum Strahlen aus, von denen ein Teil an wieder anderen Stellen der Kuhle zum dritten Mal auftrifft - und so weiter:

So entstehen also die "suncups". Aber was hat es mit ihren Schmutzrändern auf sich: Wieso reichert sich der Schmutz dort an - beziehungsweise wie wird er aus den hellen Kuhlen hinaustransportiert? Und sollte der Schnee unter diesen dunklen Stellen nicht eigentlich mehr Wärme absorbieren und daher schneller schmelzen als die weißen Stellen? 

Tatsächlich wandert der Schmutz (Staub, Ruß, feine Pflanzenbestandteile usw.) nicht bergauf, sondern die gesamte Oberfläche des Schneefelds sinkt durch die Schmelze ab. Da die Schmutzpartikel an den Schneepartikeln anhaften, bewegen sie sich beim Schmelzen mit ihnen mit, und zwar senkrecht zur örtlichen Oberfläche. Dadurch wird die Schmutzkonzentration in den konkaven Kuhlen allmählich geringer (Bewegungsvektoren der Partikel weichen auseinander), während sich das dunkle Zeug auf den konvexen Erhebungen allmählich anreichert (Bewegungsvektoren nähern sich einander an):

Ist das Schneefeld hinreichend dick, kann es zahlreiche dieser täglichen Schmelzzyklen durchlaufen. Mit der Zeit bildet sich ein Gleichgewicht heraus: Das Innere der Kuhlen schmilzt aus den oben genannten Gründen schneller als die Ränder; der Dreck sammelt sich auf den Rändern und beschleunigt dann auch dort die Schmelze; das Profil der "Sonnenbecher" bleibt ungefähr gleich, während sie im Verlauf der warmen Jahreszeit immer tiefer absinken.

Ab einer gewissen Dicke kippt übrigens der Effekt der dunklen Schmutzschicht: Sie isoliert den unter ihr liegenden Schnee dann so gut, dass er nicht schneller, sondern langsamer schmilzt als sauberer Schnee. So können im Hochgebirge (nicht aber in moderaten Höhen wie im Kaisertal) sogenannte dirt cones entstehen, also "Schmutzkegel" mit einem Schneekern, die noch isoliert in der Landschaft stehen, während der helle Schnee aus den Kuhlen bereits komplett abgeschmolzen ist.

Ein weiteres mit den Sonnenbechern verwandtes Phänomen ist fast nur im Hochgebirge nah am Äquator anzutreffen und wurde bereits von Charles Darwin auf seinen Reisen beschrieben: penitentes, zu Deutsch Büßereis - so genannt, weil die hellen, messerscharfen, oft metergroßen Schneeklingen, die aus dem Schmelz- und Sublimationsvorgang hervorgehen, wie christliche Büßer in weißen Kapuzenumhängen aussehen. In den Kuhlen zwischen den Erhebungen ist die Luftfeuchtigkeit höher, weil der Wind den Wasserdampf nicht so schnell wegbläst, und damit liegt der Taupunkt über dem Gefrierpunkt: Der Schnee verflüssigt sich. Auf den Erhebungen geht die feste Phase dagegen direkt in die gasförmige über, da der Taupunkt unter dem Gefrierpunkt des Wassers liegt. Die Sublimation einer bestimmten Schneemenge benötigt aber viel mehr Energie als ihr bloßes Schmelzen. Daher schrumpfen die Erhebungen viel langsamer als die Böden der Kuhlen. So nimmt der Höhenunterschied zwischen den Rändern und den Senken der Kuhlen immer weiter zu, bis zwischen den Kapuzenfiguren der nackte Fels zutage tritt.

So spektakulär entwickeln sich die Schneefelder im Wilden Kaiser nicht. Aber dafür gibt es hier, anders als auf den Andengipfeln, andere schöne Dinge zu entdecken.

 

Literatur