Muster des Monats 12/2018; (c) Stephan Matthiesen

Ende November ist die Zeit in Schottland, in der es etwas schwer ist, in die Natur zu gehen. Die Sonne geht schon um halb vier nachmittags unter, die Tage sind sehr kurz. Doch auch mittags steht sie nur 13° über dem Horizont (gut eine Handbreite bei ausgestreckter Hand), und wenn es, wie so oft, bewölkt und trübe ist, wird es den ganzen Tag nicht hell. Gestern und heute wechselte das Wetter zudem zwischen wenigen ruhigen Momenten und regnerisch-stürmischen Phasen, sodass ich den richtigen Moment abpassen musste, um zwischen der Arbeit (unter anderem an dieser neuen Website principia) mal etwas frische Luft zu schnappen.

Glücklicherweise liegt kaum einen Kilometer von meinem Haus entfernt inmitten eines großen Waldparkgeländes das Craigmillar Castle, die Ruine einer mittelalterlichen Burg aus 14. Jh.. Hier hielt sich im November 1566 Maria Stuart auf, und es wurde beschlossen, ihren Gatten Henry Stuart zu beseitigen. Im Februar des Folgejahres wurde Henry dann tatsächlich durch eine enorme Bombenexplosion im Palast von Holyrood in Edinburgh getötet. Ob Maria selbst beteiligt war, ist aber unklar.

Craigmillar Castle; (c) Stephan Matthiesen

Kurz gesagt, meine Nachbarschaft ist so, wie man sich Schottland eben vorstellt: eine alte Burgruine mit Geschichten von Adligen, Intrigen und Mordkomplotts, einsam zwischen uralten Bäumen vor einem düsteren, unwirtlichen Himmel.

https://de.wikipedia.org/wiki/Craigmillar_Castle

Nachdem ich nun also ein paar stimmungsvolle Bilder aufgenommen hatte, musste ich mir nur noch überlegen, welche natürliche Struktur ich nun beschreiben könnte, um ein Muster des Monats zu haben, denn mir fehlt gerade die Zeit, das Bildarchiv nach anderen Themen zu durchforsten.

Also: Man könnte sich den Wuchs der Bäume ansehen. Alte, frei stehende Laubbäume bilden oft eine Art Halbkugel:

Baum; (c) Stephan Matthiesen

Baum; (c) Stephan Matthiesen

Jetzt im Winter erkennt man gut, wie einige große Äste von einem zentralen Stamm ausgehen, sich zu mehr kleineren Ästen verzweigen, bis sie an den Spitzen - der Oberfläche der Halbkugel - in einer Unzahl winziger Zweige enden. Dies ergibt Sinn, wenn man die Entstehung eines Baums aus einem Sprößling bedenkt. Er ist nur an einer Stelle, dem Stamm, am Boden verankert. In den Blättern wird durch Sonnenenergie Kohlendioxid in der Luft in Zucker und andere Moleküle umgewandelt, die dem Baum als Energieträger und als Baumaterial dienen. Daher wächst der Baum nach Möglichkeit in alle Richtungen, und die winzigen Zweige dienen dazu, möglichst viele Blätter an der Oberfläche der Halbkugel zu tragen, wo das Licht am stärksten ist. Zum Stamm hin werden die Äste immer dicker, weil sie einerseits das Gewicht der äußeren Zweige tragen müssen, und andererseits auch durch Leitbündel Wasser zu ihnen hin bzw. Nährstoffe von ihnen weg transportieren müssen.

Nicht alle Bäume sind halbkugelförmig. Im Wald, wo das Licht vorwiegend von oben kommt, da es seitlich von anderen Bäumen abgeschirmt wird, wachsen Bäume oft mit einem relativ geraden Stamm in die Höhe und verzweigen sich dann erst in der Kronenregion. Dieser Baum, den ich im Sommer in den Cairngorms im schottischen Hochland fotografiert habe, hat nur auf der rechten Seite recht weit unten starke, lange Äste; vermutlich standen links von ihm einst andere Bäume, sodass er dort keine großen Äste bildete:

Baum; (c) Stephan Matthiesen

Die Äste am Boden sind ein umgestürzter toter Baum, keine Wurzeln (wie ich auf den ersten Blick aufgrund der Perspektive dachte); Wurzeln bilden aber unterirdisch ähnliche Muster.

Natürlich wird die Wuchsform auch von der Art beeinflusst - einige neigen eher zu kugelförmigen, andere zu kegelartigem Wachstum, wie man an diesem Bild ebenfalls aus den Cairngorms sieht:

Bäume; (c) Stephan Matthiesen

Doch warum können individuelle Bäume selbst derselben Art überhaupt unterschiedliche Formen ausbilden? Bei Tieren und Menschen ist das ja nicht so, wir haben einen ziemlich genau genetisch festgelegten Körperplan mit zwei Beinen, zwei Armen und einem Kopf. Menschen wächst nicht ein weiterer Arm, auch wenn das manchmal praktisch wäre; es gibt nur relativ kleine Abweichungen, etwa die Polydaktylie, bei der sich einige wenige zusätzliche Finger oder Zehen bilden (maximal sind 15 Finger und 16 Zehen belegt). Bäume dagegen können im Prinzip unbegrenzt viele Äste und Zweige bilden, so viele, wie in ihrer Umgebung möglich oder sinnvoll ist.

Das zugrundeliegende Prinzip ist, dass Pflanzen modulare Organismen sind. Sie bestehen aus relativ wenigen unterschiedlichen Modulen wie etwa Blätter oder Zweige, die aber jeweils in beliebig großer Zahl entstehen können. Auch bei Tieren kommt ein modularer Aufbau vor: sesshafte Meerestiere wie Korallen sind Kolonien von Einzeltieren, die ein gemeinsames Kalkskelett bilden. Korallen bilden die unterschiedlichsten Wuchsformen, etwa verzweigend, krustenförmig, massiv, oder laminar (plattenförmig). Hier sind ein paar Beispiele aus dem Naturhistorischen Museum in Wien:

Korallen; (c) Stephan Matthiesen

Der modulare Aufbau von Bäumen und Korallen hat mit einer anderen Eigenschaft dieser Organismen zu tun: Sie sind sessil (festsitzend), d.h. sie haben nicht die Möglichkeit, ihren Aufenthaltsort zu wechseln. Wir Menschen und die meisten Tiere bewegen uns ständig umher, wir können günstige Orte aufsuchen und ungünstige Orte vermeiden. Sessile Organismen können dies nicht, sie sind an den Ort gebunden, an dem der Same bzw. die Larve (bei Korallen) festgewachsen ist. Sie können nur noch durch die Veränderung und Wachstum ihres Körpers auf die Umgebung reagieren; wenn also ein Baum nur aus einer Richtung Licht erhält, kann er nicht wandern, sondern muss in diese Richtung wachsen. Dies geht nur, wenn der Körperbau nicht von vornherein völlig festgelegt ist, und der modulare Aufbau ermöglicht diese Flexibilität.

Menschen und bewegliche Tiere reagieren auf die Umgebung einfach, indem wir den ganzen Körper bewegen; wir brauchen daher keinen flexiblen Bauplan. Ein fester Bauplan hat aber den Vorteil, dass das Zusammenspiel der Körperteile viel komplexer werden kann, und dies ist auch nötig, weil die Bewegungsfähigkeit auch größere Anforderungen an die Wahrnehmung stellt: Wir haben ein Gehirn, aber Bäume nicht.

Die Bewegungsfähigkeit ermöglichte uns in der Evolution unter anderem, andere Tiere zu jagen. Das haben Menschen noch bis vor kurzem gemacht, was wiederum nicht immer gerne gesehen war. Deshalb hängt in einem anderen historischen Gebäude meiner Nachbarschaft, nur einen halben Kilometer von meinem Haus entfernt, eine "man trap" - eine Männerfalle, mit der Wilderer gejagt wurden, die sich illegal im Park des Gutsherrn ein nahrhaftes Mahl erjagen wollten:

Man trap in Inch House; (c) Stephan Matthiesen

Wer in diese Falle trat, erlitt schwerste Verletzungen, und in einer Zeit vor den modernen Gesundheitssystemen führte das für arme Leute, die sich keinen Arzt leisten konnten, oft zur Amputation oder zum qualvollen Tod. Schottland hat eine Vergangenheit, in der die Menschenrechte nicht ganz so genau genommen wurden, doch seit Mitte des 19. Jh. ist diese Art von Fußeisen verboten und man kann heute relativ sicher durch den Park laufen.

Das Gebäude ist das Inch House, hier ein Teil des Gebäudes von seinem Turm aus gesehen.

Inch House; (c) Stephan Matthiesen

Es wurde ebenso wie Craigmillar Castle im Jahr 1660 von der Familie Gilmour gekauft, und die Familie zog im 18. Jh. von Craigmillar Castle nach Inch House um, worauf die danach unbewohnte Burg zur Ruine wurde. Im 20. Jh. ging der Besitz an die Stadt Edinburgh über. Inch House selbst wurde als Schule und dann seit genau 50 Jahren (seit 1968) als Gemeinschaftszentrum genutzt, und auf den dazugehörigen Ländereien wurde nach dem Krieg eine der ersten Vorstädte nach dem Konzept der Gartenstadt erbaut - dazu gehört auch mein Haus. In den 1980er- und 1990er-Jahren war die Vorstadt "The Inch", und vor allem das benachbarte Craigmillar, ein sozialer Brennpunkt; als ich 2001 einzog, stieß man im Park noch regelmäßig auf die ausgebrannten Reste gestohlener Autos und aggressiv rasende Motorradbanden auf den Wegen. Dagegen wurde viel getan, und heute spielen dort Kinder und gelegentlich sieht man auch Rehe.