Muster- und Strukturenratebild, September 2010

Blasen im Schlamm?

(Zur Auflösung und Erklärung bitte weiterlesen.)

Am Morgen des 17. Juli 1862 richtete Dr. G. Schweizer, Direktor der Kaiserlichen Sternwarte in Moskau, den großen Refraktor "gegen den schon hoch stehenden Mond, und erfreute mich an dem herrlichen Anblick bei der gegenwärtigen Phase". Als der Direktor die 100-fache Vergrößerung jedoch gegen die 380-fache austauschte, wich die Freude einem Schrecken, wie er in den Astronomischen Nachrichten (Bd. 58, Spalte 151ff.) schrieb. Er rieb sich die Augen, sah noch einmal hin und stellte erneut fest, dass "ich Alles, was über der mittleren Mondoberfläche (oder den umgebenden grösseren Ebenen) in der Wirklichkeit erhaben ist, vertieft; und was in der Natur vertieft ist, erhaben sah. ... die Ringgebirge mit ihren Kesseln stellten sich dar, wie aufgeworfene Blasen ... Am meisten aber frappirte mich der Anblick der Rillen ... Die Higinus-Rille zeigte sich als eine hervorstehende Ader, etwa so, wie auf dem Handrücken eines magern Individuums die Adern hervortreten."

Die Täuschung ließ sich auch durch größte Willensanstrengung nicht aufheben; erst der Wechsel zurück zum schwächeren Okular stellte die wahren Verhältnisse wieder her. "Was nun die Ursache betrifft, die solche optische Illusionen hervorzubringen im Stande ist, so muss ich gestehen, dass ich dieselbe noch nicht ganz ermittelt habe. ... Gewöhnlich betrachtet man den Mond ... um das erste Viertel herum, wo die Schatten im Fernrohr gesehen, von links nach rechts fallen. Wenn nun der an diesen Schattenwurf Gewohnte, ohne weiter daran zu denken, den Mond im letzten Viertel beobachtet, so sucht er die Schatten werfenden Gegenstände unbewusst ebenfalls links vom Schatten! ... Bei schwachen Vergrösserungen, mit welchen man einen grösseren Theil der Mondscheibe auf einmal überblicken kann, fällt das Unnatürliche dieser Annahme sogleich in die Augen" – bei einer stärkeren Vergrößerungen und einem entsprechend kleinen Bildausschnitt fehlt uns jedoch die Orientierung.

Schlammhügel?

Noch stärker als bei seitlich einfallendem Licht ist diese optische Täuschung, die übrigens individuell unterschiedlich stark ausfällt und bei manchen Betrachtern ganz ausbleibt, wenn das Licht – wie hier – von unten kommt. Sehen Sie auch blasenförmige Erhebungen? Und haben Sie die unregelmäßige Linie am unteren Rand des ersten Bildes ebenfalls als "Ader" oder "Wurm" wahrgenommen? Bei mir ist diese Illusion ungeheuer stark, und das, obwohl ich um die wahren Verhältnisse weiß. Stellen wir das letzte Bild doch einmal auf den Kopf:

Krater

Voilà: Krater. Nun lässt sich sogar rekonstruieren, in welcher Reihenfolge sich die überlappenden Einschläge ereignet haben, und man erkennt die unregelmäßigen Ausläufer der äußeren Kraterränder. Diesen Kippeffekt, auf Englisch "shading illusion" genannt, behandeln Vilaynur S. Ramachandran und Diane Rogers-Ramachandran in einem Scientific-American-Artikel aus dem Jahr 2008: How 2-D Becomes 3-D in the Mind. Sie illustrieren ihn mit abstrakten Halbkugelbildern. Ich habe stattdessen eines der beliebten chinesischen Suppenschälchen fotografiert und das Foto auf den Kopf gestellt:

chinesische Suppenschüssel vorm Fenster     chinesische Suppenschüssel, Bild auf dem Kopf

Stattdessen hätte ich Sie auch auffordern können, sich vor dem Monitor auf den Kopf zu stellen. Wie die Ramachandrans schreiben, deuten bestimmte Module in unserem Gehirn ein zweidimensionales Bildmotiv mit Schatten entweder als Erhebung oder als Kuhle, weil in der Natur das Sonnenlicht meist von oben kommt. Und diese Module sind nicht mit jenen verknüpft, die die Reize aus unseren Gleichgewichtsorganen in den Ohren verarbeiten. Wenn wir uns auf den Kopf stellen, merken wir also durchaus, dass nicht die Welt, sondern wir selbst verkehrt ausgerichtet sind, und können unsere optischen Eindrücke daher im Großen und Ganzen richtig interpretieren – aber auf die Konvex-konkav-Wahrnehmung wirken die Korrektursignale sich nicht richtig aus.

Übrigens war ich nicht auf dem Mond, und ich habe auch kein Observatorium besucht. Vielmehr bin ich an einem sehr regnerischen Tag auf dem Rheinsteig unterwegs gewesen, und als es endlich aufklarte, kam ich an einer Schlammpfütze vorbei, in die bei jedem Windstoß eine Schar kleiner bis sehr großer Tropfen aus dem darüber stehenden Baum herabprasselte. Diese Tropfen – viel heterogener in ihrem Volumen als bei einem gewöhnlichen Regenschauer – haben die Krater in den Schlamm gedrückt:

Schlammpfütze

 

Noch deutlicher wird das, sobald der Wanderschuh ins Bild rückt, der schon bei anderen Mustern des Monats als Maßstab herhalten musste. Hier, mit dem nötigen Kontext und Überblick, erkennt man auf Anhieb, dass es sich um Vertiefungen handelt – ganz gleich, aus welcher Richtung das Licht nun kommt:

Wanderschuh und Schlamm am Rheinsteig

Beim Fotografieren der Tropfenkrater kam ich daher gar nicht auf die Idee, dass sich hier eine optische Täuschung einstellen könnte. Erst beim Auswerten der Fotoausbeute verwandelten sich die Kuhlen auf einigen Aufnahmen in Hügel. Warum, das zeigt das letzte Bild: Ich stand auf dem Weg (hier unten links) und habe fast senkrecht nach unten fotografiert. Die Bäume am Wegesrand, aus denen die Tropfen stammten, haben dabei das Licht von vorne abgeschirmt, sodass die Schatten eher vom Weg in Richtung der Bäume fielen. Betrachtet man die Bilder auf einem mehr oder weniger senkrechten Monitor, so meint unser Gehirn, das von der Evolution auf ein Leben in der Savanne optimiert wurde, das Licht müsse wohl – wie immer – von oben kommen. Und so kann es sich die Verteilung von Lichtreflexen und grob halbmondförmigen Schatten nur damit erklären, dass wir auf halbkugelige Erhebungen blicken.

Rheinsteig, August 2010, nasser Tag

Wer übrigens meint, das sei doch nun ein alter Hut und die Täuschung, der Direktor Schweizer vor 150 Jahren erlag, könne uns heute nicht mehr passieren, dem seien die Kommentare zu einem ScienceBlog-Artikel des Astronomen Florian Freistetter empfohlen, der im Juli 2009 Bilder vom Landeplatz von Apollo 11 vorgestellt hat: Der Mondlandungsskeptiker "Sterngucker" wunderte sich sehr darüber, dass die Schatten der Artefakte in die entgegengesetzte Richtung zeigen wie die Schatten der "Berge", und Freistetters Kollegin Ludmilla Carone erklärte ihm die optische Täuschung – nur um dann festzustellen: "Arrgh. Jetzt, wo Du es geschrieben hast, sehe ich die Krater auch als Berge"!

Trotz geduldiger Erläuterungen ließ "Sternengucker" sich übrigens nicht davon überzeugen, dass seine Wahrnehmung ihm einen Streich gespielt hatte.